Zehn Jahre Evangelii Gaudium (Teil 3) - „Das ganze Volk Gottes verkündet das Evangelium“: Die Kirche als missionarisches Volk

Donnerstag, 23 November 2023

Von Gianni Valente

Das Heil, das Gott uns anbietet und das die Kirche verkündet, heißt es in dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“, „ist ein Werk seiner Barmherzigkeit. Es gibt kein menschliches Tun, so gut es auch sein mag, das uns ein so großes Geschenk verdienen ließe“ (§112).
Das ganze programmatische Schreiben von Papst Franziskus, dessen Veröffentlichung sich morgen zum zehnten Mal jährt, wiederholt - unter Berufung auf Papst Benedikt XVI. -, dass in der von der Kirche verkündeten Dynamik des Heils «das erste Wort, die wahre Initiative, das wahre Tun von Gott kommt, und nur indem wir uns in diese göttliche Initiative einfügen, nur indem wir diese göttliche Initiative erbitten, können auch wir – mit ihm und in ihm – zu Evangelisierern werden. ». (§112).

Ein Volk, keine Lobby

Auf dem Weg der Geschichte, schreibt Papst Franziskus, wirkt das Geheimnis des Heils durch das Instrumente, die es gewählt hat. Um zu zeigen, dass das Heil, das Gott verwirklicht “und das die Kirche freudig verkündet“ allen gilt, hat „Gott hat einen Weg geschaffen, um sich mit jedem einzelnen Menschen aus allen Zeiten zu vereinen. Er hat die Wahl getroffen, sie als Volk und nicht als isolierte Wesen zusammenzurufen“.
Niemand, heißt es in dem Apostolischen Schreiben „Evangelii Gaudium“ mit Bezug auf das Matthäus-Evangelium, „erlangt das Heil allein, das heißt weder als isoliertes Individuum, noch aus eigener Kraft. Gott zieht uns an, indem er den vielschichtigen Verlauf der zwischenmenschlichen Beziehungen berücksichtigt, den das Leben in einer menschlichen Gemeinschaft mit sich bringt. Dieses Volk, das Gott sich erwählt und zusammengerufen hat, ist die Kirche. Jesus sagt den Aposteln nicht, eine exklusive Gruppe, eine Elitetruppe zu bilden. Jesus sagt: »Geht zu allen Völkern und macht alle Menschen zu meinen Jüngern« (§113).
Das von „Evangelii gaudium“ beschriebene Volk ist also kein Volk von Selbsteinberufern, die sich zusammenfinden und ihre Gemeinschaften "aufbauen", um gemeinsame Ziele zu verfolgen oder auf der Grundlage gemeinsamer Ideen oder Überzeugungen. Was dieses Volk "sui generis" (Paul VI.) eint, ist das Werk Gottes selbst, und „aus reiner Gnade zieht Gott uns an, um uns mit sich zu vereinen.[79] Er sendet seinen Geist in unsere Herzen, um uns zu seinen Kindern zu machen, um uns zu verwandeln“ (§112).
Das Volk Gottes - das erkennt auch „Evangelii gaudium“ an - sei kein politisches Subjekt, keine kollektive Lobby. Es ist die persönliche Begegnung mit Jesus, die die Menschen zu einem Volk zusammenführt. Das Volk derer, die ihm begegnet sind und ihm zu folgen beginnen. Deshalb ist der christliche Weg niemals eine Angelegenheit für isolierte Emporkömmlinge, für eine Handvoll Mutiger, für diejenigen, die über das nötige Handwerkszeug und Wissen verfügen, für rastlose Kletterer auf wer weiß welchen asketischen und spirituellen Gipfel. Die Kirche, heißt es in dem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ weiter, „ist weit mehr als eine organische und hierarchische Institution, da es vor allem ein Volk auf dem Weg zu Gott ist“. Ein „pilgerndes und evangelisierendes Volk“. Und „dieses Weise, die Kirche zu verstehen“ „hat ihr letztes Fundament in der freien und ungeschuldeten Initiative Gottes“ (§ 111).

Gemeinsam gehen, damit der Weg „leichter“ wird

Einer der Grundtendenzen, die sich durch den gesamten Text von „Evangelii gaudium“ ziehen, ist der Ausdruck "erleichtern". Der Horizont jeder apostolischen Arbeit besteht darin, die Begegnung mit Jesus zu erleichtern oder zumindest die Hindernisse zu beseitigen, die seinem Wunsch nach Heilung und Umarmung aller entgegenstehen. Zu diesem Horizont gehört auch die Anerkennung der Kirche als ein "Volk in Mission".
Wenn man inmitten eines Volkes geht und nicht allein geht, kann der Weg leichter werden. Und diesed Volk hat "viele Gesichter". Die Gebildeten und die Klugen zusammen mit den vom Leben Verwundeten, den Unwissenden und den Uninformierten. Jeden Tag sehen wir in der Kirche wieder, was Jesus vor Augen hatte, als er dem Vater dankte, weil er "diese Dinge" vor den Weisen verborgen und den Kleinen offenbart hatte.
Die Kirche als missionarisches Volk (so auch der Titel der wertvollen Studie von Pater Fabio Nardelli ofm, die bei Cittadella Editrice erschienen ist), von der in „Evangelii gaudium“ die Rede ist, ist keine Anhäufung von Manövern, keine Versammlung von Aktivisten einer Idee, einer Religion, einer Lebensphilosophie. Es ist einfach ein Volk von Getauften. Das Zeichen, das sie eint und kennzeichnet, ist die Taufe. Ihr Missionarsein äußert sich nicht darin, dass sie sich für Veranstaltungen und Aktivitäten mobilisieren, die zu den gewöhnlichen Mühen des Lebens hinzukommen. Ihre Mission erfüllt sich einfach dadurch, dass sie die Gabe des Glaubens in dem Umfeld leben, in dem sie sich befinden, inmitten der gewöhnlichen Dynamik und der unerwarteten Ereignisse, der Zwänge und Grenzen des täglichen Lebens. „Nun, da die Kirche eine tiefe missionarische Erneuerung vollziehen möchte“, heißt es in dem Apostolischen Schreiben, „gibt es eine Form der Verkündigung, die uns allen als tägliche Pflicht zukommt. Es geht darum, das Evangelium zu den Menschen zu bringen, mit denen jeder zu tun hat, zu den Nächsten wie zu den Unbekannten. Es ist die informelle Verkündigung, die man in einem Gespräch verwirklichen kann, und es ist auch die, welche ein Missionar handhabt, wenn er ein Haus besucht. Jünger sein bedeutet, ständig bereit zu sein, den anderen die Liebe Jesu zu bringen, und das geschieht spontan an jedem beliebigen Ort, am Weg, auf dem Platz, bei der Arbeit, auf einer Straße“ (§ 127). So heißt es bereits in der dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ des Zweiten Vatikanischen Konzils über die Berufung der Laien: „Sie leben in der Welt, das heißt in all den einzelnen irdischen Aufgaben und Werken und den normalen Verhältnissen des Familien- und Gesellschaftslebens, aus denen ihre Existenz gleichsam zusammengewoben ist. Dort sind sie von Gott gerufen, ihre eigentümliche Aufgabe, vom Geist des Evangeliums geleitet, auszuüben und so wie ein Sauerteig zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her beizutragen und vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens, im Glanz von Glaube, Hoffnung und Liebe Christus den anderen kund zu machen“. (LG31).

Die Versuchung der "Klerikalisierung“ der Laien

Der Auftrag der Kirche als "missionarisches Volk" - so heißt es in dem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“, das damit auch Themen behandelt, die während der jüngsten Synode über die Synodalität der Kirche in den Fokus der Medien gerieten - manifestiert sich nicht in erster Linie in dem Bemühen, Rollen und Befugnisse im kirchlichen Apparat "umzuverteilen", wie es bei der Umstrukturierung von Unternehmen geschieht. In dem Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ ist nur ein Absatz ausschließlich den "Laien" gewidmet. Das Wort "Laien" erscheint im gesamten Text des Schreibens insgesamt 13 Mal, während das Wort "Bischöfe" 25 Mal vorkommt. Implizit findet die Abneigung von Papst Franziskus gegenüber den Formen der "Klerikalisierung der Laien", die er so oft in Reden und Predigten erwähnt hat, auch in „Evangelii gaudium“ ihren Widerhall. Wenn er an den „Klerikalismus“ denke, sagte der derzeitige Bischof von Rom am 17. Februar 2022 in seiner Ansprache auf einem Symposium über die Theologie des Priestertums, denke er auch an die „Klerikalisierung der Laien“, an die Entstehung einer kleinen Elite, die um den Priester herum auch die grundlegende Mission der Laien verfälscht.
(Fides 23/11/2023)


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