ASIEN/INDIEN - „Mutter Teresa selbst war das Wunder“ - Interview mit Schwester Mary Prema, Generalobere der Missionarinnen von der Nächstenliebe

Montag, 23 August 2010

Kalkutta (Fidesdienst) – „Jesus sagt uns, was der nächste Schritt sein soll“, er ist es, der den Geist und die Mission der Missionarinnen von der Nächstenliebe lenkt: mit Blick auf den 100. Geburtstag von Mutter Teresa (am 26. August 2010) ist dieses „Vertrauen auf die Vorsehung“ einer der wesentlicher Leitgedanken der Schwestern mit dem „weißen Sari“, den die Ordensgründerin ihren Mitschwestern hinterlassen hat, die Mutter Teresa selbst als „ein Wunder“ bezeichnen. Dies betont die ursprünglich aus Deutschland stammende Schwester Mary Prema, die den Orden heute als Generaloberin leitet, in einem Interview mit „alle welt“, der Missionszeitschrift der Päpstlichen Missionswerke in Österreich. Es folgt das Interview, das bereits in der „alle welt“-Ausgabe Juli/August erschien, hier noch einmal im Wortlaut:

Schwester Prema, Sie stehen einem Orden vor, der sich um die Armen und Kranken in allen Ländern der Welt kümmert. Warum lässt Gott Leid überhaupt zu?

Leid kann keine Bestrafung sein. Gott lässt es aber zu. Dadurch können wir uns ihm auch zuwenden und von ihm die Gnade erbitten, es zu tragen, damit umzugehen. Es ist oft eine Konsequenz der Entscheidungen, die wir treffen. Es ist eine Konsequenz der gefallenen Natur. Natürlich entsteht Leid auch durch Dinge, die wir nicht beeinflussen können. Naturkatastrophen wie das Erdbeben in Haiti wären ein Beispiel dafür. Aber ich bin überzeugt, dass Gott Leid zulässt. Wir könnten dadurch bessere, tiefgründigere Menschen werden. So sind wir eventuell in der Lage, zu erkennen, dass nicht diese Welt und dieses Leben das endgültige Ziel sind, sondern dass es mehr gibt: Das Leben der Seele, die – wenn sie das Leid auch wirklich annimmt – dadurch gereinigt werden könnte.

Mutter Teresa unterschied zwischen körperlichem und seelischem Leiden. Welches ist größer?
Das größte Leiden ist das seelische. Hier in Kalkutta sehen wir, dass es für uns viel einfacher ist, die körperlichen Dienste der Barmherzigkeit zu erfüllen: das Reinigen der Sterbenden, die medizinische Versorgung der Kranken, die Betreuung der Obdachlosen in unseren Häusern. Die geistigen Dienste der Barmherzigkeit erfordern viel größeres Engagement von der einzelnen Schwester. Dem seelischen Leid können wir vor allem durch unser Gebet begegnen. Wichtig ist, dass die Gnade Gottes diese Leidenden berührt. Dafür zu beten ist genauso unsere Aufgabe. Jeden Tag halten wir eine Stunde Anbetung vor der heiligen Eucharistie. Das ist zentral für unsere Arbeit. Dabei handelt es sich nämlich nicht um Sozialarbeit, sondern um Mission.

Was verstehen Sie unter Mission? Ging es Mutter Teresa um Bekehrungen zum katholischen Glauben?

Mutter Teresa wünschte sich, dass alle Menschen Jesus kennen und lieben lernen. Sie war überzeugt, dass jede Seele sich danach sehnt, von Jesus gerettet zu werden, ob sie sich darüber im Klaren ist oder nicht. Das Werk der Bekehrung allerdings ist das Werk Gottes. Das ist nicht unsere Arbeit. Nur Gott kann Seelen bekehren. Aber Mutter Teresa begriff ihr Leben als Auftrag, Jesus zu lieben und diese Liebe an die Menschen um sie herum weiterzugeben. Das war, wie mir scheint, ihr einziges Ziel. Sie versuchte bewusst, nur das zu tun, von dem sie annahm, dass es Gott von ihr erwartete. Mutter Teresa verstand darunter den direkten Dienst am Menschen, die absolute Zuwendung für die einzelne Person, die leidet. Sie war immer zu 100 Prozent gegenwärtig und offen für die Person, mit der sie gerade zu tun hatte. Sie war nie interessiert an den großen Dingen, kümmerte sich nicht um Werbung oder Ähnliches. Im Vordergrund stand immer die direkte Begegnung mit Einzelpersonen. Darin liegt natürlich eine große Weisheit.

Wie gestaltete und prägte Mutter Teresa ihr Umfeld? Wie nahmen Sie sie wahr?

Sie würde wohl sagen, dass sie immer danach getrachtet hatte, Jesus für Menschen erfahrbar zu machen. Das ist das Erbe, das sie uns hinterließ. Durch ihr Leben, ihre Arbeit, ihre Ausstrahlung brachte sie Gott den Menschen um sie herum nahe. Sie predigte nicht einfach, sie lebte es vor. Heute noch erzählen mir Leute von ihrer ersten Begegnung mit Mutter Teresa. Für fünf Minuten waren sie ihr vielleicht hier auf der Terrasse im Mutterhaus begegnet. Dieser eine Moment veränderte ihr Leben für immer. Oft genügte ein Satz, ein gutes Wort. Viele dieser Menschen sind Hindus. Zum Christentum konvertierten sie aufgrund ihrer Begegnung mit Mutter Teresa nicht. Aber sie begannen ihr Leben und ihre Arbeit anders zu sehen und wurden zu anderen Personen, die anders mit ihren Familien zu leben begannen. Dafür gibt es viele Beispiele.

Mutter Teresa starb vor dreizehn Jahren. Wo sehen Sie die großen Aufgaben der Gemeinschaft für die künftige Dekade?

Die Missionarinnen der Nächstenliebe sehen zwar wie eine große Organisation aus. Allerdings machen wir keine Zehnjahrespläne. Wir versuchen offen zu bleiben, für das, was Gott von uns will. Jesus sagt mir nur, was der nächste Schritt sein soll. Es ist also nicht wirklich in meiner Kontrolle. Gott ist es, der die großen Entscheidungen trifft.

Hinterließ Mutter Teresa Anweisungen, wohin sich ihr Orden entwickeln soll?

Sie wurde einmal gefragt, was sein werde, wenn sie einmal nicht mehr da sein wird. Sie antwortete sehr trocken: Jetzt lassen Sie mich doch zuerst einmal sterben! Sie gab uns nie Anweisungen, wie es weiter gehen soll. Außer dass wir uns noch mehr bemühen müssen, heiliger zu werden! Dazu ermahnte sie uns oft. Heute leiten wir den Orden im Team: Drei weitere Schwestern und ich teilen diese Aufgabe. Im Letzten bin ich als Generaloberin für den Orden verantwortlich. Für diese Aufgabe durfte ich von unserer Gründerin viel lernen. Jeder Entscheidungsprozess besteht aus zwei Phasen, aus der Entscheidungsfindung (decision making) und der Entscheidung (decision taking) selbst. Mutter Teresa ließ sich sehr aufmerksam beraten, zog sich dann zurück und fällte die Entscheidung. Darin war sie sehr souverän.

Wie gehen Sie mit den Herausforderungen des neuen Jahrtausends um?

Mutter Teresa hat auf Jesus gehört und war immer offen für neue Herausforderungen und Problemfelder, die sich in der Gesellschaft auftaten. In den 1980er Jahren war das etwa HIV/Aids. In New York eröffnete sie ein Haus für die Opfer der Immunschwächekrankheit. Im Zentrum stand die Sterbebegleitung für die Kranken. Damals gab es keine Medikamente, um das Virus in Schach zu halten. Was für ein Elend! Mutter Teresa hörte zu ihrer Zeit auf Jesus und sie hatte ein offenes Ohr für die Nöte der Welt. So müssen auch wir auf Jesus hören und großzügig sein. Sie war sehr großzügig gegenüber Gott und den Leidenden um sie herum. Darin wollen wir ihr nacheifern.

Welche Ausbildung bereitet die Schwestern auf solch eine Lebensaufgabe vor?

Von Anfang an haben die Novizinnen die Möglichkeit, mit Familien in den Slums zu arbeiten. Sie bekommen eine Ausbildung in Krankenpflege und natürlich eine theologische Grundausbildung in Kirchengeschichte, Katechese und der Bibel.

Wann wird Mutter Teresa heilig gesprochen?

Eine mögliche Heiligsprechung im Jahr ihres 100. Geburtstags (26. August 2010) ist zwar in aller Munde. Daran glaube ich allerdings nicht und es ist auch gar nicht so wichtig. Jeder weiß, dass sie heilig ist. Für Hindus wie für Christen ist das hier in Kalkutta und in den meisten anderen Städten, in denen wir wirken, völlig klar. Wozu brauchen wir ein Wunder? Mutter Teresa selbst war das Wunder.

(MS-PA) (Fidesdienst, 23/08/2010)


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