AMERIKA/HAITI - „Mit dem Rücktritt des haitianischen Premierministers unter dem Druck der Bandengewalt ist ein gefährlicher Präzedenzfall geschaffen worden"

Freitag, 15 März 2024 kriminalität   politik   schwestern  

Port-au-Prince (Fides) - "Der Rücktritt des Premierministers hat deutlich gemacht, dass der Plan der bewaffneten Gruppen, die Macht in Haiti zu übernehmen, aufgegangen ist", sagte Schwester Marcella Catozza von den Franziskanerinnen von Busto Arsizio, die seit 20 Jahren in Haiti im Waisenhaus „Kay Pè Giuss“ in der Barackensiedlung Warf Jeremie arbeitet, gegenüber der Fides.
Premierminister Ariel Henry wurde zum Rücktritt gezwungen, nachdem haitianische kriminelle Banden ihn an der Rückkehr in seine Heimat gehindert hatten. Sein Rücktritt war eine der Forderungen der mehr als 300 bewaffneten Banden unter der Führung von Jimmy Chérizier, bekannt als "Barbecue" (vgl. Fides 5/3/2024).
"Die ganze Welt hat den Premierminister zum Rücktritt aufgefordert, und so hat die Gewalt leider funktioniert", betont Schwester Marcella im Interview mit Fides.

Wie ist die Lage in Haiti derzeit?

Die Realität im Land hat sich seit den letzten Tagen nicht verändert: Die Gewalt ist immer noch da, wie die Ermordung von sechs Polizisten zeigt, Schulen, Krankenhäuser und Universitäten werden angegriffen, der Terror geht auf den Straßen weiter, die Menschen haben Angst, es gibt keine Grundversorgung, kein Wasser, es fehlt an allem. Im Moment befinden wir uns in einer Patt-Situation. Der Premierminister ist zurückgetreten, und nun gibt es einen Vorschlag zur Einsetzung eines aus sieben Persönlichkeiten bestehenden präsidialen Übergangsrates, den die Banden aber bisher nicht anerkennen wollen. Haiti befindet sich also in einer Art Schwebezustand.

Besteht die Befürchtung, dass das haitianische "Modell" in anderen Ländern der Region nachgeahmt werden könnte?

Sicherlich ist die Angst begründet, gerade weil die haitianischen Banden bekommen haben, was sie wollten. Und jetzt kann jeder versuchen, auf dieselbe Weise zu bekommen, was er will. Es besteht die reale Gefahr, dass es in anderen karibischen Ländern zu ähnlich extremen Gewaltausbrüchen kommt, wie sie im vergangenen Jahr in Haiti aufgetreten sind. Die Amerikaner haben die Gewässer vor Florida gesperrt, weil sie einen Massenexodus mit einem massiven Zustrom von Flüchtlingen befürchten, unter den sich vielleicht auch kriminelle Banden mischen könnten.

Das Land, das sich am meisten vor den Folgen des Chaos in Haiti fürchtet, ist die Dominikanische Republik...

Ja, und deshalb erklärte der dominikanische Präsident den haitianischen Premierminister Henry zur „Persona non grata“, indem er ihm die Landeerlaubnis für sein Flugzeug in der Dominikanischen Republik verweigerte. Aber selbst diese Haltung war eine Hilfe für die haitianischen Banden, die mit extremer Gewalt den Rücktritt von Ariel Henry erzwangen.

Unklar ist, ob hinter all dem ein politisches Konzept steckt.

Im Moment ist es schwierig zu verstehen, wer hinter den Aktionen der Banden stecken könnte. Aus meiner Erfahrung von 20 Jahren in Haiti kann ich sagen, dass ich glaube, dass es ein Muster gibt, nicht zuletzt wegen des Schweigens von Jimmy "Barbecue" Chérizier (der in den letzten 10 Tagen praktisch 10 Stunden am Tag gesprochen hat) seit dem Rücktritt von Ariel Henry: es scheint fast so, als ob er auf Befehle von jemandem wartet, um den nächsten Schritt zu tun. Vielleicht wartet dieser Jemand auf die Veröffentlichung der Auswahlliste mit sieben Namen für den Übergangsrat des Präsidenten.
Ich glaube auf jeden Fall, dass jemand hinter den Banden steckt, auch weil die Waffen, die ich bei ihnen gesehen habe, sehr modern sind. Diese Kriminellen haben Drohnen, es ist nicht so, dass sie nur Macheten haben, das haben sie auch, aber sie haben hauptsächlich Gewehre und Maschinengewehre. Eine dieser Banden ist direkt neben unserem Haus stationiert, und wir sehen, wie Kisten mit neuen Waffen ankommen; wir hören, wie sie die Waffen testen. In regelmäßigen Abständen kommen Kisten mit Waffen an, die sie dann testen, so dass wir gelernt haben, zu unterscheiden, ob es sich um Schüsse aus einem Feuergefecht handelt oder ob es sich um neu eingetroffene Waffen handelt. Das geschieht nicht täglich, aber sicherlich wöchentlich. Zusätzlich zu den Waffen treffen auch immer wieder so genannte "neue Soldaten" ein, Jungen, die von der Straße rekrutiert werden, weil sie Hunger leiden.
In einigen Fällen habe ich gesehen, wie Kriminelle in unserer Gegend "von Tür zu Tür" gehen: Sie gehen in die Häuser und nehmen die Jungen aus ihren Familien heraus. Deshalb haben wir im Juni und Juli versucht, die männlichen Jugendlichen, die in unserer Einrichtung untergebracht waren, woanders unterzubringen, weil sie Gefahr liefen, von den Banden zwangsrekrutiert zu werden. Letztere sind in Haiti die einzigen Einrichtungen, die Lebensmittel anbieten können. Die Generation, die in den letzten 20 Jahren aufgewachsen ist, erlebte den "Wirtschaftsboom" nach dem Erdbeben (2009) mit dem massenhaften Auftreten von NRO, die Geld und humanitäre Hilfe brachten und relativen Wohlstand (Handy, Motorrad) boten, aber auf nichts aufgebaut haben. So sind junge Menschen nun eine leichte Beute für kriminelle Banden, die ihnen einen Teller Reis und eine Waffe anbieten, die ihnen "Macht verleiht". Auf diese Weise rekrutieren sie Dutzende von jungen Menschen. Sogar die Bande, die unsere Gegend beherrscht, zwingt alle Jungen ab 16 Jahren, zwei Jahre "Militärdienst" in ihren Reihen zu leisten.
(L.M.) (Fides 15/3/2024)


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