AFRIKA/TUNESIEN - Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke: „Wir müssen die Mobilität der Menschen rund um das Mittelmeer als Gelegenheit betrachten“

Dienstag, 4 Oktober 2011

Tunis (Fidesdienst) – „Wir stehen während dieser Zeit des Übergangs auf der Seite der tunesischen Bevölkerung, der wir vor allem Liebe und Respekt entgegenbringen“, so der Nationaldirektor der Päpstlichen Missionswerke in Tunesien, P. Jawad Alamat, im Gespräch mit dem Fidesdienst. Tunesien steht vor den ersten wirklich freien und demokratischen Wahlen seiner Geschichte, die am 23. Oktober stattfinden werden. Mit Blick auf dieses wichtige Ereignis stellen wir dem aus Jordanien stammenden P. Jawad einige Fragen zur Situation der katholischen Kirche in Tunesien.

Wie setzt sich die Kirche in Tunesien zusammen?

Wir sind eine kleine Gemeinde mit Gläubigen aus 70 verschiedenen Ländern. Unter unseren Gläubigen gibt es Unternehmer, Diplomaten, Studenten (die meisten aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara), Flüchtlinge und Touristen, deren Zahl jedoch in jüngster Zeit zurückgegangen ist, nachdem die politische Lage zunehmend instabiler wurde. Wir dürfen uns jedoch nicht entmutigen lassen und sollten darauf hoffen, dass die Zahl der Touristen wieder auf das frühere Niveau zurückkehrt. Außerdem leben hier rund 12.000 katholische Frauen, die mit tunesischen Muslimen verheiratet sind. Zudem gibt es rund ein Dutzend katholische Schulen, deren rund 8.000 Schüler größtenteils Muslime sind: die Eltern haben großes Vertrauen in uns und schätzen vor allem die Qualität des Bildungsangebots.

Wie haben Sie die Zeit der tunesischen Revolution erlebt? Fühlten Sie sich in Gefahr?

Nein, denn unsere muslimischen Freunde haben uns beschützt und uns versichert, dass uns nichts passieren würde. Und so war es auch. Es ist traurig, dass der polnische Missionar Marek Rybinski sterben musste (der aus Polen stammende Salesianer von Don Bosco, wurde am 18. Februar in Manouba ermordet, vgl. Fidesdienst vom 19. und 22. Februar 2011), doch es handelte sich um ein Verbrechen, das nicht darauf abzielte, die Kirche als solche zu treffen. Im Gegenteil, 3.000 Tunesier nahmen an einer Kundgebung vor der Kathedrale in Tunis teil, die ihre Solidarität gegenüber der Kirche zum Ausdruck brachten. Dies war eine sehr schöne Geste.

Wie denken Sie über das Problem der Auswanderung der Tunesier nach Europa und die sozialen Auswirkungen dieses Phänomens in einigen Regionen?

Ich war auf der italienischen Insel Lampedusa, wo die Auswanderer, bei denen es sich vorwiegend um Tunesier handelt, bei ihrer Ausreise nach Europa zuerst ankommen. Ich verstehe die Gereiztheit der Inselbewohner, denn wo zu den ursprünglich 3.000 Einwohnern plötzlich 5.000 Zuwanderer hinzukommen ist es ganz normal, dass Probleme entstehen. Doch davon abgesehen sollten wir diese Notlage überwinden und die Mobilität der Menschen rund um das Mittelmeer als eine Gelegenheit und nicht als eine Bedrohung betrachten. Tunesien ist mit seiner jungen und dynamischen Bevölkerung eine unentdeckte Ressource für Europa, insbesondere für Italien, das die Tunesier ganz besonders lieben. Die Migrationsbewegung braucht nicht notwendigerweise nur in eine Richtung von Tunesien nach Europa stattfinden. Europäische Unternehmer könnten zum Beispiel in Tunesien investieren und neue Arbeitsplätze schaffen.

Dafür ist eine stabile politische Lage Voraussetzung. Manche befürchten, dass aus den kommenden Wahlen islamitische Parteien gestärkt hervorgehen könnten….

Die Tunesier lernen Tag um Tag die Regeln des demokratischen Spiels und setzen sich dafür ein, dass die bevorstehenden Wahlen erfolgreich verlaufen. Was die Islamisten anbelangt, ist es gut, dass sie am demokratischen Prozess beteiligt sind und dessen Regeln einhalten. Ihr Ausschluss währe gefährlich und zudem ungerecht. Ich erinnere daran, dass 70% der Arbeitslosen junge Menschen sind, die eine gute Schulausbildung und akademische Grade besitzen. Es handelt sich um ein enormes Potential, das zum Wohl des Landes genutzt werden sollte. Die Identität des Tunesiers ist aus einer Synthese des Westens mit dem Islam entstanden. Aus diesem Grund kann Tunesien eine Brückenfunktion zwischen Europa und der arabischen Welt übernehmen. (LM) (Fidesdienst, 04/10/2011)


Teilen: