JOHANNES PAUL II. UND EUROPA von Erzbischof Philippe Barbarin von Lyon

Mittwoch, 15 Oktober 2003

Lyon (Fidesdienst) - In einer Zeit, in der Europa nach den Formen seiner Einheit sucht, kann die Lehre des Heiligen Vaters einen wichtigen Beitrag leisten. Denn für Papst Johannes Paul II. ist Europa nicht nur ein äußerer geographischer Rahmen für die Länder, aus denen es sich zusammensetzt, die sich mehr oder weniger glücklich anpassen. Es handelt sich für ihn vielmehr um eine spirituelle Berufung, die jedem der einzelnen Staaten zu eigen ist. Europa wird auf diese Weise zutiefst eins mit all seiner Verschiedenheit.

Wo liegt das Geheimnis dieser Spannung zwischen Einheit und Verschiedenheit? Eine Lektüre der päpstlichen Dokumente und insbesondere seiner Predigten und Ansprachen bei seinen Besuchen des Papstes in den verschiedenen europäischen Hauptstädten, lässt eine Art roten Faden erkennen. Dieser rote Faden ist die der Lehre des Papstes innewohnende Verbindung zwischen Kultur und Politik.
Noch vor der politischen Einheit gibt es in Europa eine kulturelle Einheit: die Zwistigkeiten, die im Laufe der Jahrhunderte die politische Einheit Europas überschattet haben, sind wohl bekannt. Konfessionelle Spaltungen wurden durch den Nationalismus und die Selbstverherrlichung der Länder, die zum Patriotismus wurde, hoch gespielt. Doch die politischen Zwistigkeiten konnten die ursprünglich kulturelle Einheit eines Kontinents nicht auslöschen, die im Verlauf seiner Geschichte ein gemeinsames Erbe von ethischen Werten und religiösen Erfahrungen geschaffen hatten.
Die Lehre des Heiligen Vaters ist in gewisser Weise die Verlängerung der Erfahrung, die er in seinem eigenen Land gemacht hat, das sein Überleben seiner besonderen Kultur verdankt. Es ist bekannt, dass der Beschluss, die polnische Kultur durch das Theater überleben zu lassen, für Karol Wojtyla eine wahre Form des politischen Widerstands war. Dieselbe Intuition setzt Papst Johannes Paul II. um, wenn er daran erinnert, dass die gegenwärtige politische Verantwortlichkeit in einer grundlegenden kulturellen Kontinuität wurzelt.

Die politischen Regime der verschiedenen Länder können sich ändern und die Interessen können sich zum Teil widersprechen, doch Europa bleibt immer eine Kulturgemeinschaft, die aus einer jahrhundertealten Tradition entstand. Angesichts dieser transzendentalen Kontinuität der Staaten erinnert der Papst jedes Land und jede Regierung an seine Verantwortlichkeit in der heutigen Zeit. Denn, wenn diese kulturelle Kontinuität für jeden einzelnen Staat gilt, dann kommt sie nicht von außen sondern von innen: jeder Staat ist auf seine Weise eine politische Konkretisierung der einzigen europäischen Kultur. Jede Hauptstadt ist, wie der Papst zu sagen pflegt, gleichsam Landeshauptstadt und europäische Hauptstadt. In verschiedenen Botschaften des Papstes bei seinen Frankreichbesuchen hatte der Papst immer wieder die doppelte Identität einer Hauptstadt wie Paris hervorgehoben: die Hauptstadt eines Landes und gleichzeitig eine der Hauptstädte Europas. Die Unterschiede können deshalb auch als Reichtum Europas bezeichnet werden: jedes land muss auf seine Weise das eigene Dasein als Mitgliedsstaat Europas verwirklichen.

Mehr als jeder andere weiß der Papst auch wie zerbrechlich eine Kultur sein kann: es dauert Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende, bis eine Kultur entsteht; und es reichen wenige Generationen aus, um sie zu zerstören. Der Petrusnachfolger ist sich der historischen Verantwortung des Papsttums beim langsamen Aufbau der europäischen Kultur sehr wohl bewusst: er ist sich auch bewusst wie zerbrechlich dieses Gebäude ist , das mehr denn je Gefahr läuft, einer Identitätskrise nachzugeben. Die Gefahr dieser Krise besteht darin, das Bindeglied zu durchbrechen, das durch die Kultur politische und spirituelle Aspekte vereint. Doch dies liegt zweifelsohne der europäische Vision des Heiligen Vaters zugrunde: was für jeden Kontinent gilt, gilt in ganz besonderer Weise, für Europa.
Ganz besonders deutlich wird dies in seiner Enzyklika „Fides et Ratio, wenn der Heilige Vater darauf hinweist, dass da anthropologische Gewicht der Kultur vor allem in ihrem Geist liegt, dabei betont er vor allem die Verbindung zwischen den spirituellen und den politischen Aspekten. Die Kultur ist das ausschlaggebende Element dieser stets problematischen Verbindung zwischen der politischen und kulturellen Dimension Europas. Dem Willen des Papstes, die ursprüngliche Rolle der Kirche in der Kultur zu fördern, liegt vor allem eine Intuition zugrunde: die Kultur macht es möglich, dass die spirituelle Berufung eines Kontinents in der Politik Niederschlag findet. „Frankreich, antike Tochter der Kirche, was hast du aus deiner Taufe gemacht?“, mit dieser Frage wendet sich die Kirche in gewisser Weise durch Frankreich an ganz Europa und sie wendet sich an Frankreich nicht nur unter historischen Gesichtspunkten sondern auch was die heutige Verantwortung bei Aufbau einer politischen Einheit anbelangt, die Ausdruck einer wahren spirituellen Berufung sein soll.

Während der 25 Jahre eines unermüdlichen Lehramtes zeichnen sich die wichtigen Züge dieser spirituellen Berufung, wie sie sich in konsequenten politischen Leitlinien niederschlagen sollte ab: Papst Johannes Paul II. ist der „Papst der Menschenrechte“, denn er betont, wie untrennbar diese Rechte sind und das die Religionsfreiheit das Bindeglied zwischen diesen Rechten ist. Oft hat er daran erinnert, dass die Wichtigkeit dieser Menschenrechte sich vor allem an der Religionsfreiheit orientiert, die aus diesen Rechten auch eine Pflicht gegenüber Gott macht. Wo die europäische Kultur noch nach dieser Beziehung zwischen den Menschenrechten und den Pflichten gegenüber Gott sucht, erinnert Papst an den Gedanken des Zweiten Vatikanischen Konzils, wenn es darum geht, Europa daran zu erinnern, dass die Förderung der Religionsfreiheit, einer der wichtigsten Werten in der Geschichte dieses Kontinents, der entscheidende Punkt dieser Gedankengänge sein sollte. Es kann keine Menschenrechte geben ohne die Pflicht des Menschen vor Gott und für Gott tatsächlich frei zu sein. In diesem Sinn wird Europa durch das kulturelle Denken und das politische Handeln weiterhin Zeuge seiner spirituellen Berufung sein können.

Diese grundlegenden Gedanken, die seit der berühmten Ansprache an die UNESCO im Jahr 1980 entwickelt wurden, fügen sich zu einem Aufruf zur Hoffnung zusammen, der uns im nachsynodalen Apostolischen Schreiben „Ecclesia in Europa“ (Juni) wie ein Geschenk überreicht wird: “Werde wach und stärke, was noch übrig ist, was schon im Sterben lag« (Offb 3, 2) …Unsere kirchlichen Gemeinschaften … haben es nötig, die Stimme des Bräutigams wiederzuhören, der sie zur Umkehr einlädt, sie anspornt, Neues zu wagen, und sie aufruft, sich für das große Werk der »Neuevangelisierung« einzusetzen. … Auf diese Weise ruft Jesus Christus unsere Kirchen in Europa zur Umkehr, und mit ihrem Herrn und durch seine Gegenwart werden sie zu Boten der Hoffnung für die Menschheit.“(Nr.23). Papst Johannes Paul bezieht die Kraft seiner Worte und die Begeisterung seiner Hoffnung aus dem Text der Offenbarung, die diesem Dokument als spirituelle Grundlage dient.
Die wichtigste Erinnerung an den Appell, mit dem sich Papst Johannes Paul II. während seines ganzen Pontifikats an Europa gewandt hat, ist vielleicht in seiner Ansprache enthalten, die er 1982 in Compostella (Spanien) gehalten hat: „Als Bischof von Rom und Hirte der Weltkirche, rufe ich dem alten Europa liebevoll zu: Finde wieder zu dir selbst. Sei du selbst. Endecke deine Ursprünge. Belebe deine Wurzeln ... Du kannst weiterhin Leuchtturm der Kultur und Antriebskraft für den Fortschritt auf der Welt sein. Die anderen Kontinente blichken auf dich und erwarten von dir dieselbe Antwort, die der heilige Jakob Christus gegeben hat: ‚Ich kann es’.“ (Fidesdienst, 15/10/2003)


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