VATIKAN - BEIM AUFBAU DES NEUEN EUROPA DÜRFEN WIR DIE ZIGEUNER NICHT VERGESSEN“: INTERVIEW MIT DEM SEKRETÄR DES PÄPSTLICHEN RATES FÜR DIE SEELSORGE UNTER MIGRANTEN UND MENSCHEN UNTERWEGS, MSGR. MARCHETTO

Montag, 30 Juni 2003

Vatikanstadt (Fidesdienst) – Unter dem Motto „Kirche und Zigeuner: Für eine Spiritualität der Gemeinschaft“ beginnt heute in Budapest (Ungarn) der Fünfte Weltkongress für die Pastoral unter Zigeunern. Der Kongress, der bis zum 7. Juli tagt, wurde vom Päpstlichen Rat für die Seelsorge unter Migranten und Menschen unterwegs in Zusammenarbeit mit der Ungarischen Bischofskonferenz organisiert. Die Arbeiten wird Erzbischof Stephen Fumio Hamao, der Präsident des Dikasteriums des Heiligen Stuhls für die Pastoral unter den weltweit rund 18 Millionen Zigeunern, eröffnen.
An den Kongressarbeiten nehmen rund 150 Delegierte stellvertretend für 25 Bischofskonferenzen teil, bei denen es besondere Arbeitsstellen für die Pastoral unter Zigeunern gibt. Unter den Teilnehmern befinden sich Bischöfe, Nationaldirektoren, Priester, Ordensleute und Laien, die als Pastoralarbeiter tätig sind. Es ist auch die Teilnahme von Priestern und Schwestern aus dem Volk der Zigeuner vorgesehen.
Der Fidesdienst stellte dem Sekretär des Päpstlichen Rates für die Pastoral unter Migranten und Menschen unterwegs, Msgr. Agostino Marchetto:

Der Kongress in Budapest gehört zu den zahlreichen Initiativen zur Förderung der Zigeuner. Können Sie uns weitere Initiativen nennen?
In letzter Zeit gab es verschiednen Initiativen zugunsten der Zigeuner sowohl auf kirchlicher als auch auf weltlicher Ebene. Der Europarat hat zum Beispiel zum Nachdenken über die Achtung der Menschenrechte der Zigeuner angeregt; zu diesem Zweck tagten im März in Rom zahlreiche Menschenrechtsexperten, wobei zu dieser Tagung auch Vertreter der katholischen Kirche eingeladen waren.
Insgesamt gibt es auf der ganzen Welt rund 17/18 Millionen Zigeuner, mit Schwerpunkten in Mexiko, Brasilien, den Vereinigten Staaten und Osteuropa und Wanderbewegungen in die Länder der Europäischen Union, was auch durch die neuen Gegebenheiten der erweiterten EU ermöglicht werden wird. Beim Aufbaue eines neuen Europa dürfen wir nicht vergessen, dass auch die Zigeuner seit Beginn des 15. Jahrhunderts zur europäischen Geschichte gehören. Die Chronik berichtet von Zigeunern, die am Hof des Königs von Ungarn lebten.
Gleichzeitig muss man auch bedenken, dass weitere 17/18 Millionen Zigeuner im Herkunftsland dieses Volkes, nämlich in Indien leben.

Mit welchen Themen befasst sich der Kongress?
Das Thema des Kongresses „Kirche und Zigeuner: für eine Spiritualität der Gemeinschaft“ lehnt sich an das Apostolische Schreiben von Papst Johannes Paul II. Novo Millennio Ineunte an, in der auf die Notwendigkeit der Förderung einer Spiritualität der Gemeinschaft hingewiesen wird. Dies bedeutet vor allem die Fähigkeit mit anderen Freude und Leid teilen zu können, sich um deren Bedürfnisse zu kümmern und ihnen wahre Freundschaft anzubieten. Wir möchten die Lebensbedingungen dieser Brüder und Schwestern vor allem unter geistlichen Gesichtpunkten betrachten und analysieren wie sich der Glaube unter diesen konkreten Lebensbedingungen zum Ausdruck kommt. Aus diesem Grund haben wir Priester und Ordensleute aus dem Volk der Zigeuner eingeladen: es nehmen rund zwanzig solcher Priester und Ordensleute teil, was unter Beweis stellt, wie diese Menschen Apostel unter den Angehörigen ihres eigenen Volkes werden können.

Wie steht es um die Beziehungen der Zigeuner zum Glauben?
Eine der Schwierigkeiten, mit denen wir uns befassen müssen, ist die Tatsache, dass Zigeuner dazu tendieren, sich in Glaubensfragen von den Orten beeinflussen zu lassen, an denen sie leben: wenn sie in einem orthodoxen Land leben, dann sind sie Orthodoxe, wenn sie in einem katholischen Land leben, sind sie Katholiken; leben sie in einem muslimischen Land, sind sie Muslime und so weiter. Deshalb sollte es unter Achtung des Gewissens jedes einzelnen ein einen Aufruf dazu geben, das eigene Leben in Übereinstimmung mit dem Evangelium zu führen. Dies bedeutet nicht, dass diese Menschen von ihrer eigenen Kultur entfremdet werden sollen, von ihrem Sinn für das Wandern und das Unterwegssein. Es gibt eine lange Geschichte der Schmerzen in den Beziehungen mit diesem Volk. Deshalb besteht auch der Wunsch, die Verfehlungen, die es ertragen musste, wieder gut zu machen und dabei der Kultur dieser Brüder und Schwestern gerecht zu werden, die wie wir alle, ihre guten und schlechten Seiten haben.

Weshalb wurde Ungarn als Gastgeber Land für den Kongress gewählt?
Dieses Mal findet ein solcher Kongress erstmals außerhalb des Vatikan statt und wir haben Ungarn als Veranstaltungsort ausgewählt, weil dort Millionen von Zigeunern leben und wollten damit ein konkretes Zeichen des Interesses der Kirche gegenüber dieser Realität setzen.

Was kann Europa tun, damit Zigeuner unter Berücksichtigung ihrer Kultur integriert werden können?
Die Frage der Integration ist das Problem aller Migranten und wird im Fall der Zigeuner besonders wichtig. Der im heutigen Europa vorherrschende Lebensstiel tendiert dazu Menschen abzulehnen, die ein Nomadenleben führen. In letzter Zeit wurde jedoch eine gewisse Sesshaftigkeit unter den Zigeunern erkenntlich, die anfangs bestimmt nicht freiwillig war. Doch die Zigeuner selbst werden sich zunehmen bewusst, dass sie ihre Kinder zur Schule schickem müssen, wenn sie ihnen eine Zukunft garantieren wollen und dies macht es erforderlich, dass sie am selben Ort bleiben.
Wichtig ist es, dass ihre Kultur respektiert wird und dies nicht so sehr unter materiellen Gesichtspunkten sondern vielmehr, was ihre Lebensauffassung anbelangt. In diesem Sinn darf es sich auch bei der Integration nicht nur um eine Aufnahme handeln sondern um ein interaktives Verhalten zwischen verschiedenen Kulturen, die jeweils ihre eigene Identität bewahren. (LM) (Fidesdienst, 30/6/2003 – 82 Zeilen, 869 Worte)


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