AMERIKA/BRASILIEN - „Eine Reflexion und ein neues Bewusstsein unserer Identität und dessen, was wir der heutigen Welt geben können ist dringend notwendig: davon hängt die Qualität der Mission der Kirche ab“: Interview mit Erzbischof Odilo P. Scherer von Sao Paolo, Generalsekretär der Brasilianischen Bischofskonferenz

Donnerstag, 3 Mai 2007

Aparecida (Fidesdienst) - Im Vorfeld der Eröffnung der V. Generalkonferenz des Rates der Lateinamerikanischen Bischöfe sprach der Fidesdienst mit Erzbischof Odilo P. Scherer, der seit dem 29. April das Erzbistum Sao Paolo leitet. Erzbischof Scherer ist auch Generalsekretär der Brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB) und Sekretär der V. Generalkonferenz des CELAM.

Mit welchen pastoralen Herausforderungen und Prioritäten sollte sich die V. Generalkonferenz angesichts des derzeitigen soziopolitischen und kulturellen Wandels auf dem lateinamerikanischen Kontinent auseinandersetzen?
Nach der IV. Generalkonferenz in Santo Domingo (1992) hat es auf dem Kontinent unter zahlreichen Aspekten Veränderungen gegeben und es gibt sie auch heute noch. Die Herausforderungen beziehen sich vor allem auf eine angemessene Verwirklichung der Sendung der Kirche in dieser sich wandelnden Welt; die Kirche möchte das Evangelium als „Frohbotschaft“ verkünden und dies in einem Kontext der neuen Situation, in der Armut und sozialer Ausschluss weiterhin existieren oder sogar noch zunehmen; die Gewalt überall zunimmt, wo es zahlreiche Migrationsbewegungen in die reicheren Länder der nördlichen Halbkugel, wirtschaftlichen und kulturellen Auswirkungen der Globalisierung, religiöse Veränderungen, Abwanderung der Gläubigen unserer Kirche zu anderen christlichen Gruppen, die Kommerzialisierung des Heiligen auf der Grundlage eines Konzepts des „religiösen Marktes“ und neue ethische Probleme gibt … Eine große Herausforderung sind auch die Mission der Kirche in den Großstädten, die Vertiefung des Glaubens und des Zugehörigkeitsgefühls der Katholiken zur Kirche, in einem kulturellen Umfeld, das sich durch Mobilität, prekäre Verhältnisse, instabile Beziehungen und Kompromisse mit den traditionellen Institutionen auszeichnet.

Sind die Herausforderungen in den verschiedenen Regionen Lateinamerikas dieselben?
Mit einigen Unterschieden und verschiedenen Schattierungen in einigen Ländern sind diese Herausforderungen in allen Regionen des Kontinents präsent. Natürlich sind sie vor allem in den großen Städten akut.

Erklären Sie uns bitte die Auswahl des Themas: „Jünger und Missionare Jesu Christi, damit alle in ihm das Leben haben“. Könnte nicht der Anschein entstehen, als ob man sich von der heutigen alltäglichen Realität dieser Länder entfernen würde? Was soll dieses Thema bewirken?
Das Thema wurde Papst Benedikt XVI. nach eingehenden Überlegungen zur Situation in Lateinamerika vorgeschlagen. Der Papst hat es mit einigen kleinen Änderungen gebilligt. Das Thema beinhaltet drei Kernaussagen: die christliche und katholische Identität („Jünger und Missionare Jesu Christi“); Mission („Missionare Jesu Christi, damit unsere Völker in ihm das Leben haben); und der Sinn der Gegenwart der Christen und der Kirche unter unseren Völkern („damit unsere Völker in Ihm das Leben haben). Eine Reflexion und ein neues Bewusstsein unserer Identität und dessen, was wir der heutigen Welt geben können sind dringend notwendig: davon hängt die Qualität der Mission der Kirche ab. Angesichts der großen kulturellen Veränderungen könnte die Echtheit des christlichen Angebots für das „Leben in der Welt“ verwässert oder unecht erscheinen. Es ist deshalb richtig, zu Christus und zu seinem Evangelium zurückzukehren und sehen, was dies für unsere Völker bedeutet. Ihrerseits bedürfen die Herausforderungen der heutigen zeit einer neuen missionarischen Öffnung der ganzen Kirche. Wir können nicht länger annehmen, dass alle bereits evangelisiert sind und dass es ausreicht, das was bereits geleistet wurde zu erhalten und zu bewahren. In unseren Ländern sind die katholischen Diözesen, Pfarreien und Familien heute jeden Tag von unzähligen „anderen“ Angeboten bezüglich des Lebens und der Religion in Versuchung geführt. Es geht dabei nicht um Konkurrenz. Sondern vielmehr darum, dass wir unsere Mission verwirklichen.
Ich glaube nicht, dass das Thema der V. Generalkonferenz sich vom Leben der Völker entfernt und von seinen reellen Interessen. Oder interessiert das Evangelium vielleicht unser Volk nicht mehr? Die dritte Kernaussage des Themas („damit unsere Völker in Ihm das Leben haben“) ist zu Recht, auf die Realität ausgerichtet, in der unsere Völker leben: die Not, der tägliche Kampf, die historischen Übel, die Hoffnungen und der Wunsch nach Freiheit, Würde und Glück. Und die Kirche möchte weiterhin eine bedeutende Präsenz in der Gesellschaft und in der Geschichte, in der Politik, in der Wirtschaft und in der Kultur unserer Völker sein. Die katholische Kirche hat den Völkern in Lateinamerika, den Organisationen und der Kultur etwas zu sagen, oder vielmehr: das Leben der Völker nach den Plänen des Herrn und seines Reiches ohne den Einfluss von Ideologien, Wirtschafstheorien oder politischen Parteien, „damit unsere Völker in Ihm das Leben haben“.

Welche Erwartungen und Hoffnungen weckt diese V. Generalkonferenz in Brasilien und auf dem ganzen Kontinent?
Wir hoffen, dass die Worte von Papst Benedikt XVI. bei der Eröffnung der Arbeiten der V. Generalkonferenz und die Beschlüsse, die die Konferenz fassen wird, der Kirche in Lateinamerika dabei helfen werden, zu verstehen, wohin die Mission gehen soll und welche Methoden angemessen sind, um die gegenwärtigen Herausforderungen anzugehen, denen die Mission der Kirche in Brasilien und auf dem ganzen Kontinent gegenübersteht. Ich hoffe, dass wir Impulse für das missionarische Handeln und die missionarische Dynamik bekommen werden; auf der anderen Seite sollen die Katholiken die Freude am Glauben tiefer empfinden und sich mit der ganzen katholischen Kirche vereint fühlen; es soll den Laien geholfen werden, ihre Sendung in der Kirche und vor allem mit Dynamik und Kompetenz anzugehen. Und die Früchte für das Leben der Völker sollen, wie in der Vergangenheit, reich erblühen.

Glauben Sie, dass diese Konferenz die christliche Identität der Menschen, die den Glauben wegen des heutigen Relativismus in der Gesellschaft, der Sekten und der anderen Herausforderungen, denen die Christen heute gegenüberstehen, verloren haben, die christliche Identität zurückbringen?
Ich hoffe, dass es so sein wird, doch ich zweifle nicht daran, dass dafür viel missionarisches Engagement, viel Geduld und viel Ausdauer seitens der Kirche notwendig sind. Die Konferenz wird dazu beitragen einen neuen Ansatz der katholischen Kirche auf dem Kontinent zu entwickeln. Dies kann nicht allein im kirchlichen Umfeld geschehen. Wir leben in einer umfassenden und weit verbreiteten Kultur, die einen Mangel an Identifikation mit dem katholischen Glauben und mit der Kirche fördert. Ich glaube, dass es notwendig ist, dass wir den Katholiken dabei helfen, dass sie ihre christliche, katholische und kirchliche Identität wieder erkennen; wer keine Identität hat, der ist wie ein trockenes Blatt, das der Wind überallhin trägt … Und die Entstehung der Identität geschieht durch eine christlichen Grundbildung, durch eine intensive Evangelisierungstätigkeit, durch Katechese und mystische Bildung, durch das positive Zeugnis der Präsenz und des Handelns der Kirche im Leben der Menschen und der Gesellschaft. Wir müssen dir Freude am Glauben wieder finden, wie Papst Benedikt XVI. schon oft gesagt hat.

Was bedeutet der Besuch des Papstes und wo liegen die Schwerpunkte des Besuchsprogramms aus?
Der Papst kommt vor allem, um die V. Generalkonferenz zu eröffnen. Auch die früheren Generalkonferenzen wurden immer vom Papst eröffnet, mit Ausnahme von Rio de Janeiro (1955). Dies zeigt, wie wichtig die V. Generalkonferenz für Brasilien und Lateinamerika hat. Der Papst ist der sichtbare Bezugspunkt für die Einheit der Kirche und hat die Aufgabe „die Brüder im Glauben zu bestärken“ (vgl. Lk 22,32). Deshalb ist seine Anwesenheit in Aparecida von großer Bedeutung: Benedikt XVI. verleiht einem großen kirchlichen Ereignis in Aparecida Legitimität und zeigt uns welche Rolle die Kirche auch in Zukunft unter unseren Völkern spielen soll, damit sie dem von Christus empfangenen Auftrag treu bleibt.
In Sao Paolo wird der Papst dem Staatsoberhaupt, der Jugend und den Bischöfen Brasiliens begegnen. Er wird einen Gottesdienst mit den Menschen feiern, bei dem er auch den seligen Antonio di Sant’Ana Galvao heilig sprechen wird, den ersten Heiligen für Brasilien. Von Aparecida aus wird der Papst eine kirchliche Einrichtung für Drogenabhängige („Fazenda della Esperanza“); in Aparecida wird der Papst am 13. Mai den Eröffnungsgottesdienst zur Generalkonferenz feiern und der Eröffnungssitzung vorstehen. Wir freuen uns sehr über den Besuch, den der Papst hat auch Momente für die Begegnung mit den Gläubigen in Brasilien und aus ganz Lateinamerika vorgesehen. (RG) (Fidesdienst, 03/05/2007 - 116 Zeilen, 1.296 Wort)


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