VATIKAN - “Wer erzählt die Geschichte Jesu?“: Kardinal Tagle eröffnet Konferenz zum 400jährigen Gründungsjubiläum der Kongregation „de Propaganda Fide“

Donnerstag, 17 November 2022 mission   evangelisierung   kongregation für die evangelisierung der völker   päpstliche universität urbaniana   geschichte  

Von Gianni Valente
Vatikanstadt (Fides) – „Wer wird die Geschichte Jesu erzählen? Welche Worte und welche Wege werden gefunden, um diese Geschichte in der neuen modernen Welt zu verkünden, die von künstlicher und digitaler Intelligenz, polarisierendem Extremismus, religiöser Gleichgültigkeit, erzwungener Migration und Klimakatastrophen geprägt ist?“. Mit diesen berechtigten Fragen befasste man sich am gestrigen Mittwochnachmittag, den 16. November, in der Aula Magna der Päpstlichen Universität Urbania. Die Fragen stellte Kardinal Luis Antonio Gokim Tagle am Ende seiner Eröffnungsansprache bei der Internationalen Konferenz „Euntes in mundum universum“, die anlässlich des 400jährigen Gründungsjubiläums der Heiligen Kongregation “de Propaganda Fide“, dem 1622 von Papst Gregor XV. eingesetzten Dikasterium für die Missionen. Die Fragen des Kardinals blieben in der Aula, die bis auf den letzten Platz mit Rednern, Konferenzteilnehmern und Studenten der päpstlichen Universitäten gefüllt war, offen und ohne Antworten.
Die bemerkenswert Ansprache von Kardinal Tagle, die den Auftakt zu einem intensiven Programm voller hochkarätiger akademischer Vorträge und Reden bildete, verfolgte dieser die jahrhundertealte Geschichte der Propaganda Fide zurück bis zum Auftrag, "der Welt die Geschichte Jesu zu erzählen", dem Ausgangspunkt und der Daseinsberechtigung dieser römische Institution, die heute mit ihrer Geschichte und ihren Kompetenzen im Dikasterium für Evangelisierung aufgegangen ist. "Wir feiern nicht eine Geschichte, die hier endet, sondern eine Geschichte, die weitererzählt werden wird", sagte dazu auch Pfarrer Leonardo Sileo, Prorektor der Universität Urbaniana, in seinem Grußwort.
„Die Auseinandersetzung mit der langen Geschichte der Propaganda Fide", so begann Kardinal Tagle seine Ansprache, "wird die Teilnehmer der Konferenz dazu bringen, eine große Anzahl von Geschichten zu hören, von denen wir einige bereits kennen, und andere, die für uns ganz neu sein werden". Der gesamte Beitrag des philippinischen Kardinals zielte darauf ab, zu bezeugen, dass das "Erzählen von Geschichten", das so genannte „story telling“, und seine Auswirkungen das Geflecht jeder individuellen und kollektiven Geschichte weben wird, einschließlich der Geschichte der Erlösung.
„Die Geschichte", so Kardinal Tagle, setze sich unter anderem aus Geschichten zusammen, "und auch das Evangelium ist voller Geschichten". Das menschliche Leben sei "ohne Geschichten nicht vorstellbar", es habe selbst "eine narrative Struktur". „Und das gilt auch für das Leben einer Institution wie Propaganda Fide. Jede Geschichte ist dann real und wirkt in sich selbst überzeugend, wenn sie auf Erfahrung beruht, wenn sie die Erfahrung des Menschen, der sie erzählt, aus erster Hand wiedergibt, der bei den Ereignissen anwesend war und sie als Augenzeuge miterlebt hat“, betonte er. So erzählten alle "die besten Geschichten, wenn diese der eigenen Erfahrungen ausgehen". Und auch die Ereignisse der Propaganda Fide und die Missionsgeschichten könnten, von Augenzeugen erzählt zu werden, die wertvolle Spuren in den verschiedenen Archiven der Kongregation hinterlassen haben. Diese - so kündigte der Kardinal an – sollen digitalisiert werden, um sie auch Wissenschaftlern und Forschern zugänglich zu machen.
„Die Geschichten, die erzählt werden", fügte Kardinal Tagle hinzu, "offenbaren die Identität der Person sowie die der Ereignisse und Menschen, die sie geprägt haben. Sie zeigen uns, wer wir sind und wohin wir gehen“. "Wenn ich meine kleinen Geschichten erzähle, wird die intime Geschichte meines Lebens nicht nur dem Zuhörer, sondern auch mir selbst offenbart. Und jede Geschichte, die der Einzelne erzählt, handelt nie nur von ihm selbst. Jede Geschichte, die erzählt wird, entfaltet sich nicht im luftleeren Raum, sondern stellt andere Menschen, meine Familie, Freunde, die Gesellschaft, die Kultur, die Wirtschaft und das, was wir Zeit nennen in Frage. (...). Ich bin, was ich bin, weil ich in die Geschichten anderer Menschen und in die Geschichten unserer Zeit eingetaucht bin", führte er dazu aus.
„Die erzählten Geschichten", betonte der philippinische Kardinal, "sind dynamisch, wandlungsfähig und können immer wieder neu erzählt werden. In ihnen wird die Erinnerung zu einem entscheidenden Faktor für die Gegenwart. Indem wir uns an unsere Geschichten erinnern, erkennen wir auch, dass die Vergangenheit nicht statisch ist". Wenn man die eigenen Geschichten erzähle, "nehmen man wahr, wann man sich verändert hat“ und „wie sehr wir uns verändern müssen".
„Die Geschichte und einzelne Geschichten", fuhr Kardinal Tagle mit Blick auf den weiteren Horizont von individuellen zu gemeinschaftlichen und kollektiven Ereignissen, "sind auch wichtig, um die Bedeutung von spirituellen und lehrhaften Symbolen zu erfassen“. Geschichten "formen die Gemeinschaft". Gemeinsame Erfahrungen und Erinnerungen "lassen die einzelnen Individuen zu einem zusammenhängenden Körper werden". Und wenn sie erzählt werden, "können sie den Zuhörer verwandeln". Wer die Geschichten anderer höre, "kann sehen, wie Erinnerungen an persönliche Interessen geweckt werden". Dennoch: Geschichten "erwecken Ehrfurcht und rütteln uns aus dem Schlummer auf". In anderen Situationen könne man Geschichten auch aus dem Gedächtnis entfernen, „wie es Opfer von Traumata tun, um ihr eigenes Leiden nicht zu verlängern und zu erneuern“, oder Diktatoren „wenn sie verhindern, dass Nachrichten und Geschichten über Korruption, Unterdrückung und Gewalt verbreitet werden“.
Am Ende seiner Rede lud Kardinal Tagle dazu ein, die Punkte, die er in seinen Ausführungen über die Bedeutung des "Geschichtenerzählens" genannt hatte, auch auf das Leben "einer Gemeinschaft oder einer Institution wie Propaganda Fide" anzuwenden. Abschließend warf er Fragen auf, die er selbst als "provokant" bezeichnete: "Wenn man über die Geschichte der Propaganda Fide spricht, wessen Geschichten werden dann erzählt? Werden die Geschichten der Päpste erzählt? Die der Präfekten? Die der lokalen Gemeinschaften? Die der Armen? Die Geschichte Jesu? Und wird uns die Geschichte von Propaganda Fide ermutigen, in die zeitgenössischen Welten der künstlichen und digitalen Intelligenz, des Extremismus, der Polarisierung, der religiösen Gleichgültigkeit, der erzwungenen Migration, der Klimakatastrophen, um nur einige zu nennen, einzutreten? Wie wird die Geschichte von Jesus in diesen Welten erzählt werden? Und wer wird die Geschichte von Jesus erzählen? mit diesen Fragen schloss Kardinal Tagle und wiederholte dabei die Worte des auferstandenen Jesus an die Apostel „Euntes in mundum universum, ("Geht in die ganze Welt") in der lateinischen Version, die auch als Titel der Konferenz zum 400-jährigen Jubiläum der Propaganda Fide dient.
(Fides 17/11/2022).


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