Die Völkermorde des 20. Jahrhunderts

Dienstag, 6 April 2004

Rom (Fidesdienst) - Das 20. Jahrhundert wurde von Historikern als „das Jahrhundert des Totalitarismus“ bezeichnet und es wird auch als „Jahrhundert der Völkermorde in die Geschichte eingehen. Es wurden - in vielen Teilen der Welt und zu unterschiedlichen Zeiten im Laufe des Jahrhunderts - zahlreiche offensichtliche und systematische Versuche unternommen, ganze Völker zu vernichten und sprachliche, kulturelle und religiöse Spuren auszulöschen.
Der Völkermord an den Juden wird derjenige sein, an den die Geschichtsbücher zum 20. Jahrhundert erinnern: Während der Zeit des Zweiten Weltkriegs fand in Europa die Schoah statt, der Mord am jüdischen Volk. Sechs Millionen Juden wurden im Deutschland des im Jahr 1933 an die Macht gelangten Hitler ermordet. Die grundlegende ideologische Motivation dafür war der Rassismus: das als „rein arianischer Abstammung“ betrachtete deutsche Volk war dem „jüdischen Feind“ überlegen. Die Verwirklichung dieses Vorhabens war möglich, nachdem Hitler Deutschland in einen totalitären Staat verwandelt hatte. Dabei nahm die wissenschaftliche Planung des Massakers verheerende und unmenschliche Ausmaße an: es wurde eine wahre Vernichtungsmaschinerie in Gang gesetzt. Der makabre Rationalismus der nationalsozialistischen Ideologie ging sogar so weit, dass organische Materialien (Haare, goldene Zahnprothesen und Kronen) der in Gaskammern ermordeten Leichen wieder verwendet wurden. Ein Holocaust, der den Menschen als „undenkbar und unsagbar“ in Erinnerung im Gedächtnis bleiben wird. Und doch wurde er mitten im zivilisierten modernen Europa begangen.
Noch vor dem Völkermord an den Juden wurde der Völkermord am armenischen Volk verübt. Er begann Anfang des Jahres 1915 auf Betreiben der Partei der Jungen Türken, der nationalistische Offiziere des Osmanischen Reichs angehörten. Das Regime plante die Ausrottung der Armenier, die zunächst unter dem Deckmantel der „aus militärischen Gründen notwendigen Evakuierung aus den Kriegsgebieten“ geschah mit großer Sorgfalt. Im September 1915 kann ein Großteil des Völkermordes bereits als vollbracht betrachtet werden: Bei der Deportation in die Konzentrationslager in der syrischen Wüste, starben rund eineinhalb Millionen Armenier.
Ebenfalls im Nahen Osten ist noch heute die Frage der Kurden, der „Nation ohne Vaterland“, die in einigen Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Iran und in Irak leben. Während der Jahre seiner Diktatur versuchte Saddam Hussein den Völkermord an den Kurden unter anderem auch mit chemischen Waffen. Irakische Soldaten machten mit Sprengstoff und Bulldozern ganze kurdische Dörfer dem Erdboden gleich und deportierten die Kurden aus dem Nordirak in die Wüstengebiete des Lands. Sie sollten aus ihrer Heimat entfernt und ihre Traditionen und Kultur ausgelöscht werden. Dieser versuchte Völkermord, dem tausende Menschen zum Opfer fielen, konnte nur durch das Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft verhindert werden.
Unzählige Menschen fielen auch einem weiteren Völkermord aus jüngster Zeit in Kambodscha unter dem Regime der „Roten Khmer“ zum Opfer. Das Regime unter dem vor wenigen Jahren gestorbenen berüchtigten marxistischen Leader Pol Pot hat das eigene Volk ermordet: in den Jahren von 1975 bis 1979 starben rund zwei Millionen Menschen an Hunger, Erschöpfung und Krankheiten infolge der Gewalt oder sie wurden von den fanatischen maoistischen Machthabern des damaligen Kambodscha hingerichtet.
Auch die Völker Chinas wurden Opfer eines Massakers mit ideologischem Hintergrund: mindestens 48 Millionen Chinesen wurden unter dem Regime Maos in den Jahren von 1949 bis 1975 im Rahmen des „Großen Sprungs nach vorne“, den Säuberungen, der Kulturrevolution oder in Arbeitslagern ermordet.
Dasselbe Schicksal erlebten in den Jahren von 1965 bis 1967 auch fast eine Million Kommunisten in Indonesien unter dem Suharto-Regime, die auf Befehl von den Soldaten der Regierungsarmee ermordet wurden. Noch in den Jahren von 1974 bis 1999 wurden rund 250.000 Menschen in Osttimor von proindonesischen Truppen ermordet.
Auf der langen Liste der Völkermorde, die aus politischen und ideologischen Gründen begangen wurden, steht auch der Mord an rund 1,9 Millionen Christen und Angehörigen von Stammesreligionen im Südsudan: Die Regierung in Khartum blockierte Hilfslieferungen für die Menschen in diesen Gebieten; ebenso die Völkermorde in Lateinamerika, wo bei der Revolution in Mexiko und unter den „Desaparecidos, die den Militärdiktaturen des 20. Jahrhunderts zum Opfer fielen, nach Schätzungen rund eine Millionen Menschen durch die Gewalt südamerikanischer Regime ums Leben kamen. Zudem starben allein im Amazonasgebiet in einem Jahrhundert fast 800.000 Indios an den Folgen der Unterdrückung.
Wenn es um die Auslöschung von Volksgruppen geht, die in Kontakt mit einer neuen Zivilisation gelangt sind, dann darf man auch die australischen „Aborigines“ nicht unerwähnt lassen. Wie die geschichtswissenschaftlichen Forschung belegt, wurden die Eingeborenen der Region Tasmanien bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts systematisch ermordet: Sie wurden mit Einwilligung der Regierung entweder vergiftet oder „verschleppt“.
Gehen wir noch einen Schritt zurück, dann erinnert uns der Fall der Aborigines an einen der ältesten Völkermorde der modernen Zeit: Die Ausrottung der amerikanischen Indianer. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts war Nordamerika bei der Ankunft der ersten Europäer von rund 400 Indianerstämmen bewohnt die rund 300 verschiedenen Sprachgruppen angehörten. Die Indianer wurden vor allem von amerikanischen und englischen Soldaten ausgerottet, die allein um der eigenen Ausdehnung in ganz Nordamerika willen, die Indianer aus ihrer Heimat vertrieben und bei ihren Massakern auch vor Morden an Frauen und Kindern nicht zurückschreckten. Heute haben die Indianer kein eigenes Land mehr: ein Teil von hat sich vollständig in die weiße Bevölkerung eingegliedert, während andere noch in einigen hundert Reservoirs in den Vereinigten Staaten und Kanada leben.
Es gibt noch viele weitere Massenmorde, die von den Historikern als „genoizide Massaker“ bezeichnet werden, in unserer zeitgenössischen Geschichte: zum Beispiel auf dem europäischen Balkan; in Asien in Tibet, Indien, Bangladesch, Myanmar, Indonesien, Osttimor, Sri Lanka, Laos und Vietnam; in Afrika in Nigeria, Sudan, Ruanda, Burundi, Uganda, Äquatorialguinea, Äthiopien; in Lateinamerika in Guatemala, Salvador, Kolumbien, Argentinien, Paraguay und Brasilien. Es handelt sich in allen Fällen um Gewalt von beträchtlichem Ausmaß, die zeigt, dass auch unsere heutige Zeit nicht gegen die Gefahr des Völkermordes immun ist. (PA) (Fidesdienst, 6/4/2004 - 77 Zeilen, 927 Worte).


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